Dorfentwicklung

 

 

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Bärstadts wird in August Kriegers Buch eingehend anhand der ältesten Dokumente Bärstadts beschrieben.

 

Die Besiedlung der Landschaft erfolgte meist durch sehr einfache Faktoren. Die Landschaft war bis ins Mittelalter durch dichten Wald geformt. Die Besiedlung Bärstadts bot sich einfach an. Hier war das wichtigste Nahrungsmittel, nämlich Wasser vorhanden. Außerdem lag es günstig am alten Handelsweg der sogenannten Alte Kemeler- / Rintstraße. Dieser Weg ermöglichte es die Steuern und Zölle entlang des Rheingrabens zu umgehen. Um dies zu verhindern, wurde später das Rheingauer Gebück errichtet.

Dieser Weg wird im Bereich Bärstadts „Hohe Straße“ genannt, er verbindet den Rheingau mit dem Taunus.

 

Die ältesten Karten Bärstadts im Staatsarchiv sind aus dem 18. Jahrhundert. Man erkennt gabelförmig vier Straßen. Den Gabelstiel bildet die heutige Hauptstraße. Die Zinken werden gebildet aus der heutigen Backhausstraße, oberer Hauptstraße, Rathausstraße und Schützenstraße. Die Anzahl der Häuser sind schlecht auszumachen, jedoch entlang der Straßen erkennbar. Das älteste Bauwerk ist die Kirche an der Schützenstraße. Der Bauort hat sich sicherlich aus pragmatischen Gründen entwickelt, hier findet man einen stabilen Baugrund für das massive Mauerwerk, außerdem ist hier ein natürliches Plateau. In Bachnähe wäre dies sicher nicht möglich gewesen. Die ältesten Fachwerkhäuser sind aus dem 18. Jahrhundert, also zwischen 1700 und 1800 erbaut. Ältere Fachwerke lassen sich nicht erkennen oder belegen. Grund hierfür dürften Brände und bauliche Veränderungen/ Überformungen sein. Die Ackerflächen wurden durch Rodung dem Wald abgetrotzt. Die alten Gemarkungsnamen wie Buchenrod oder Rotherberg belegen dies. Die giebelständigen Häuser reihen sich wie an einer Perlenkette entlang der Straßen. Die Grundrisse und Anordnungen der Häuser sind immer wieder gleich. Noch ohne Bürgersteig standen die Häuser bis in die 50er Jahre direkt an der Straße. Zwischen den Häusern war eine schmale Hofdurchfahrt, die zu einer Scheune führte. Zwischen Haus und Scheune befand sich die Remise und der Misthaufen. Die Scheune diente der Unterbringung des Futters und der Kühe, Ziegen oder Schweine sowie ggf. eines Pferds. Ab den 20er Jahren hatte Bärstadt Stromversorgung. Petroleumlampen und Göbelwerke wurden durch strombetriebene Geräte und Installationen ersetzt. Zunächst stand ein Trafohäuschen im Alten Weg, dieses wurde in den 60er Jahren durch das heute noch in Betrieb befindliche in der Müllerpfad ersetzt.

 

Die meisten Häuser im Dorf waren zweigeschossig als Holzfachwerkkonstruktion. Alle Baustoffe fanden sich in der Nähe. Die Grundmauern wurden aus dem kleinen Steinbruch am heutigen Friedhof, am Kemeler Weg oder im Bärstadter Steinbruch an der Wambacher Mühle gewonnen. Das Holz fürs Fachwerk und die Stickstecken kamen aus dem heimischen Wald. Ebenso kam der Lehm z.B. vom Mühlberg. Als Bindemittel für Mörtel und Putz diente Kalk. Einige Häuser wurden als Sichtfachwerke ausgeführt. Eine Kälteperiode im 18. Jahrhundert führte aber dazu, dass viele Häuser mit einem Kalkputz nachträglich versehen wurden. Dieser diente als zusätzliche Wärmedämmung. Die Fachwerkkonstruktionen blieben auch bestimmend bis in die 20er Jahre, dann löste der Ziegelstein das Fachwerk ab. Durch die wirtschaftlich schlechten Bedingungen der Weimarer Republik entstanden nur wenige Häuser. Hier einige Beispiele: Schlangenbader Weg 10 (1907), Alter Weg 4+7 sowie Backhausstraße 6. Die Nachkriegsbauten der 50er und darauffolgenden Jahre wurden dann mit zementgebundenen Hohlblocksteinen errichtet. Ab den 70er Jahren wurden dann auch Fertighäuser errichtet. Diese bestanden aus fertigen Wänden, die Vorort verschraubt wurden, Teile der Installation waren  vormontiert.

 

Die Wege, die aus dem Ort herausführen, sind benannt nach dem Ziel: Hauser Weg, Fortelbacher Weg, Fischbacher Weg, Kemeler Weg, Schwalbacher Weg, Wambacher Weg (heute Hackerweg), Schlangenbader Weg, Kiedricher Weg (Hullgass genannt). Die Streckenführung dieser Wege veränderte sich jedoch. Deutlich erkennbar ist dies am Kemeler Weg, der ehemals am Haus Schützenstraße 13 begann, heute beginnt der Weg am Fischbacher Berg. Offensichtlich wurden auch einige Wege optimiert, um einen steilen Anstieg mit Fuhrwerken zu erleichtern. Weitere Veränderungen traten ein als die erste und zweite Flurbereinigung umgesetzt wurde.1949 wurde die Hauptstraße asphaltiert und die Abwasserrohre verlegt. Bis 1950 veränderte sich Bärstadt unmerklich, bis auf geringe Veränderungen blieb auch der Straßengrundriss bestehen. Die Nummerierung der Häuser erfolgte zuletzt chronologisch nach der Entstehungszeit des jeweiligen Hauses. Bis zur Eingemeindung 1972 hieß die heutige Hauptstraße, Ortsstraße.

 

Die ersten städtebaulichen Erweiterungen begannen im Bereich Bangert und Tiergarten. Es entstanden so die Schulstraße und die Straße am Tiergarten mit Bebauung bis zur Walluf. Den Anstoß für die dortige Bebauung brachte die Errichtung der Grundschule mit Volksbad und Lehrschwimmbecken(!) im Jahr 1954.

Es begann die Zeit der Wirtschaftswunderjahre. Wer nicht von der Landwirtschaft lebte, fand als Arbeiter oder Angestellter Arbeit in den naheliegenden Städten. Die Firma Kartonagen Keil bot vielen Frauen und Männern Arbeit im Ort. Man stellte z.B. für „4711“ aus Köln die Verpackungen her. In den besten Jahren wurden sogar Frauen aus den Nachbarorten mit dem betriebseigenen VW-Bus herangeholt, um die personelle Nachfrage zu stillen. Immer mehr konnten sich ein Auto leisten. Die alte Scheune oder Remise hatte ausgedient, hier fand sich der Stellplatz des Pkws oder Traktors wieder. Die erste Motorisierung begann schon vor dem Krieg mit wenigen Pkws und Motorrädern. 

 

Am Schneeberg bildete sich ab den 60 Jahren ein Wochenendgebiet. Hier bauten Städter ihr kleines, später großes Wochenenddomizil. Prominentester Wochenendler wurde der Wirt vom „Blauen Bock“ - Heinz Schenk.

 

1967 wurde das erste Neubaugebiet im Dorf genehmigt. (Auf der untersten Platt- Im Kappesgarten- In der Wendelswiese- Auf der Pfitz). Der Boden war nicht tiefgründig oder ertragreich. Dieser Hang (Obere und Untere Platte) war durch die Flurbereinigung nicht umgelegt worden und bestand deshalb noch aus vielen kleinen Parzellen. Die Lage war geradezu ideal. Die Sonne ging hinter der gegenüberliegenden Hangseite im Osten auf und bewegte sich während des Tages westlich. Mit der Errichtung dieses Baugebiets kam es auch wieder zu einem großen Zuzug von Ortsfremden. Etwa jedes zweite Haus gehörte einem Neubürger, landläufig wurden diese als „Zugezogene“ bezeichnet. Für diese war die Infrastruktur und räumliche Nähe zu Wiesbaden oder Mainz interessant, zudem bot Bärstadt einen großen Naherholungswert. Die Grundschule und der Kindergarten waren im Dorf, weiterführende Schulen in der Nähe. Das Einleben war einfach, wenn man z.B. kleine Kinder hatte. Der Turnverein war ein verbindendes Element, einige waren Mitglied im Gesangs- oder Schützenverein oder der Feuerwehr. Für damalige Verhältnisse waren die Baugrundstücke erschwinglich. Einige Bärstadter hatten mehrere Baugrundstücke und konnten aus dem Verkauf ihr eigenes Haus bauen. Die Gemeinde und Kirche bot auch Grundstücke zum Kauf oder zur Erbpacht an. Die Zeit des Wirtschaftswunders hatte 1973 ihren Zenit erreicht. Nahezu jeder Bürger hatte einen PKW.

 

1988 wurde das Baugebiet „Am Roten Berg“ genehmigt. Auf dem steilen Hang, an dem Generationen von Kindern Schlitten und Ski fuhren, stehen heute Ein- und Zweifamilienhäuser. Vom Sonnenstand und der Zuwegung ist der Hang nicht ideal. Man wählte aber diese Hangseite, da man befürchtete, dass bei einer Bebauung des Klauergrabens die Wassergewinnung beeinträchtigt würde.

 

Was veränderte sich währenddessen im Ortskern?

 

Das Aussehen der Häuser in der Dorfmitte veränderte sich langsam. Man wünschte sich Licht und insgeheim auch etwas eines Neubaus- „man geht mit der Zeit“. Die zurückhaltenden Fassaden mit Klappläden und rhythmischer Anordnung der Fenster verschwanden. Die einst hochrechteckigen kleinteiligen Fenster mit Holzbekleidung verschwanden und liegende Fensterformate wurden eingebaut. Aluminiumtüren waren das Neuste auf dem Markt. Die, durch die Fachwerkkonstruktion bestimmte Anordnung der Fenster auf Achsen entfiel. Mode wurde auch der Balkon. Wer ein altes Haus hatte, konnte sich hier nur mit einer Loggia-Lösung helfen: dem einspringenden Balkon. Naturschieferdächer verschwanden z.T. und wurden durch Eterniteindeckungen ersetzt. Auch die Glasbausteine kamen in Mode und waren beliebtes Gestaltungselement. Der glatte und bauphysikalisch wertvolle Kalkputz verschwand hinter „Münchner Rauputz“. Dieser kaschierte durch seine grobe Struktur einen unebenen Untergrund. Nichts sollte mehr an ein Bauernhaus erinnern, man mochte nicht rückständig wirken.

In den 80er Jahren begann das sogenannte Scheunensterben. Wer sich räumlich vergrößern musste und nicht ins Neubaugebiet mochte oder konnte, baut die alte Scheune aus oder riss sie ab und baute dort in zweiter Reihe neu. Wem dies nicht möglich war baut an sein Haus an - nicht immer zum gestalterischen Vorteil.

 

In den 1980er Jahren kam es zu einem „Revival“ der Fachwerke. Man schätzte diese nun wieder als optische Bereicherung im Straßenbild. Selbst Häuser, die nie ein Sichtfachwerk hatten, wurden freigelegt und zur „Schau“ gestellt. Eine eigentümliche und fragwürdige Entwicklung bei steigenden Energiekosten und einer schlechteren Dauerhaftigkeit/ Haltbarkeit der Fassade.

 

Die Nachfrage und die Begehrlichkeiten nach Immobilien stieg in den 90er Jahren durch die Wende so an, dass viele Besitzer ihr Wochenendhaus an „An der Hohen Straße“ auch während der Woche nutzten. Dies war natürlich problematisch, es fehlte an der entsprechenden Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Wasser wurde mit Fässern aus dem Wasserhäuschen am Feuerwehrgerätehaus angefahren, die Omsgruben entsprachen auch nicht den geltenden Anforderungen. Die Straßen waren schmal und zu steil angelegt. Aufgrund fehlender Baulandreserven beschloss die Gemeinde Schlangenbad, die Bebauung mittels Bebauungsplan zu ordnen. 1997 wird der Bebauungsplan „An der hohen Straße“ rechtskräftig. Dies zog viele Immobilienwechsel nach sich, große Grundstücke wurden geteilt, kleine Häuser abgerissen und größere neu gebaut. Für Feuerwehr, Winterdienst, Müllabfuhr und Krankenwagen ist dieses Gebiet aufgrund der schmalen Wege immer noch ungünstig zugänglich.

 

1998 entsteht ein kleines Baugebiet „An der Wambacher Straße“, um die Ansiedlung von Gewerbe zu ermöglichen.

2001 wurde das Baugebiet „Am Kemeler Weg“ genehmigt und rechtskräftig.

 

2003 wird das letzte größere Baugebiet „Aufm Klauergrabens“ genehmigt. Hier wurden zunächst der Kindergarten und dann die neue Grundschule errichtet. Momentan erfolgt die Bebauung durch private Bauherren mit Wohnhäuser. Benannt wurde die einzige Straße, die durch das Baugebiet führt, nach dem letzten Bürgermeister Bärstadts, Friedrich Heusser.  Über den Neubau und eventuellen Abriss der alten Grundschule gab und gibt es viel Unmut. Die Kritik machte sich hauptsächlich fest an dem geplanten Abriss der liebgewonnen alten Grundschule und an der gestalterischen Einfallslosigkeit und unpassenden Einfügung der neuen Grundschule  in der Landschaft. Die alte Grundschule konnte mittlerweile an eine Privatperson veräußert werden, der diese für Veranstaltungen/Seminare sinnvoll nutzt und so erhält.

 

Mit dem Artikel Dorfentwicklung ist nach ca. vier Jahren Arbeit der letzte Punkt unseres Vorhabens, der Schilderung der Jahre zwischen 1920 bis 1950, vollendet.

 

 

Dieter Kaiser und Jürgen Münzer

 

22.03.08